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Was hältst Du davon, dass der Umgang mit, bzw. die Reaktion auf Antisemitismus in Deutschland immer noch ein wichtiges Thema ist und (häufig) seitens der Politik, den (öffentlich-rechtlichen) Medien und verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen (größtenteils) kritisch thematisiert wird?
Sollte deiner Meinung nach dieses Thema häufiger oder seltener in diesen Zusammenhängen aufgegriffen werden? Aus welchem Grund?

Fast einhellig wurde die Meinung vertreten:

Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit sowie Rassismus müssen thematisiert werden, um aufzuklären und solchen Strömungen den Nährboden zu entziehen und Gewalt und Ausgrenzung zu verhindern. Die Berichterstattung sollte keinesfalls seltener stattfinden. Der öffentliche Diskussionsraum muss besetzt werden. Es muss in der Öffentlichkeit durch die Politik, die Medien und in der bürgerlichen Gesellschaft über diese Art von Menschenfeindlichkeit und Verletzung der Bürgerrechte gesprochen werden. Das antisemitische Denken in allen möglichen Bereichen der Kultur, der Wissenschaften, der Politik, der Kunst etc. muss klar benannt und in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Antisemitische Vorfälle, zumal die rechtsextremen Attentate, müssen klar benannt, verfolgt und aufgearbeitet werden. Die Thematisierung muss dabei „in die Tiefe“ gehen, und es braucht immer wieder neue Formen. Formelhafte Lippenbekenntnisse - oder auch nur der Anschein solcher - müssen vermieden werden.
Aufgrund der deutschen Geschichte kann es kaum zu viel Empörung über Diskriminierung allgemein und Antisemitismus im Speziellen geben schrieb eine Teilnehmerin. Ein anderer merkte an: wo kein Widerspruch ist, wachsen die Dämonen.
Das Thema müsste häufiger aufgegriffen werden, besonders weil viele meinen, sie hätten – etwa in den Schulen – schon so oft darüber geredet, aber wenn man nachfragt, ist kaum Wissen vorhanden.
Zwei Lehrerinnen merkten dazu an: … man müsste in den Schulen die Schüler*innen frühzeitig für dieses Thema sensibilisieren, sie informieren, damit sie die Problematik im politischen Dialog und in der Gesellschaft verstehen. Was z.B. die Jugendguides in Tübingen mit politischer Unterstützung des Landkreises machen, finde ich sehr zielgerichtet und wichtig. Die Jugendlichen müssen das Wissen in die Gesellschaft tragen, damit die Menschen wissen und verstehen.
Auch ist die Generation der Menschen, die den Nationalsozialismus und Judenverfolgungen erlebt haben, aufgrund ihres Alters am Verschwinden – ein weiterer Grund, das Thema auf andere Weise im Bewusstsein zu halten. Man darf niemals damit anfangen, es zu vergessen.
Es ist wichtig, christlich-jüdisches-muslimisches u.a. Miteinander zu fördern, nicht nur appellativ in den Medien, sondern im Alltag, bei Festen, im Kalender etc.
Eine Teilnehmerin gab zu bedenken, dass der „permanente Alarm“ aber auch kontraproduktiv sein könne und evtl. die Gefahr besteht, dass dieser zur Abstumpfung in Bezug auf die Wahrnehmung antisemitischer Vorkommnisse führen kann. Eine weitere Äußerung geht ebenfalls in diese Richtung: Ich denke, viele Menschen sind satt. Ich auch gelegentlich. Das gebe ich zu… hiermit negiere ich aber nicht das Geschehene, glaube und hoffe ich.
Und eine Teilnehmerin stellt die Frage, ob man den Tätern durch den öffentlichen Diskurs eine weitere Plattform bietet, wodurch sie sich in ihren Handlungen auch bestärkt fühlen können. Andererseits würde das Nicht-Thematisieren das Problem unsichtbar machen.
Auch wird zu bedenken gegeben: Berichterstattung allein reicht nicht, Antisemitismus muss auch mehr (stafrechtlich) verfolgt werden. So wie Gewalt gegen Frauen, Ausländerfeindlichkeit etc.
Einigen Teilnehmer*innen war es wichtig, dass Berichterstattung über antisemitische Äußerungen und Taten differenziert dargestellt werden, da es viele Quellen gibt. Ein moslemischer Antisemitismus ist zu unterscheiden vom christilich-eruopäischen und vom politischen Anti-Israelismus. Das muss immer genau gesehen und analysiert werden. Denn es ist wirklich nicht dasselbe, es sind verschiedene Gruppen und Motivationen, die dahinterstecken.

 

Der Beitrag vieler Teilnehmer*innen geht in folgende Richtung – sehr stark wurde dies auch in den persönlichen Gesprächen geäußert, hier stellvertretend einige Aussagen:

  • Die Thematisierung / die Präsenz jüdischen Lebens bzw. des Judentums sollte über eine Reaktion auf antisemitische Vorfälle und auch über die weiterhin unverzichtbare Auseinandersetzung mit dem christlichen Antijudaismus und mit der Shoah hinausgehen. Der Reichtum und die Vielfalt jüdischen Denkens und jüdischer Kultur sollte mehr Raum bekommen.

  • Es ist schade, dass die erste (und beinahe einzige) Sache, an die ich beim Thema Jüdinnen und Juden in Deutschland denke, Antisemitismus ist. Vielleicht könnte man zusätzlich mehr Bericht erstatten über jüdische Menschen, ohne auf das Thema Antisemitismus einzugehen – so könnte man auch eine klare Botschaft an viele Menschen schicken: Juden/Jüdinnen sind nicht nur Opfer von Antisemitismus, sie sind Menschen mit genau denselben Themen, Problemen und Erfolgen.

  • Im jüdischen Museum in Berlin wird die deutsch-jüdische Geschichte aus den letzten 1700 Jahren dargestellt. Es ist so spannend auch mal einen tiefen Einblick in die Zeit vor 1933 zu bekommen. Es gibt großartige jüdische Künstler*innen und Schriftsteller*innen, die Deutschland mit geprägt haben. Für die Zukunft wünsche ich mir mehr gemeinsame Projekte, nicht immer nur Berichte über „die Juden/Jüdinnen“ und „die Deutschen“ sondern mehr „WIR“. Wichtig wären in dem Zusammenhang „unverkrampfte“ Kontakte zu und Begegnungen mit jüdischen Bürger*innen, mit jüdischer Kultur (aber auch Sinti und Roma, Islam ...), um Unsicherheiten, Fragen, Falschwissen und Ressentiments in der Bevölkerung abzubauen.
     

Es kamen jedoch auch Bedenken:
Eine zu starke Bevorzugung / Hervorhebung einer durch die Nazis geschädigten Gruppe finde ich weniger / nicht gut, da andere Minderheiten, wie die überlebende der Sinti und Roma nicht wirklich rehabilitiert wurden und weiter unter einer fortdauernden Unterprivilegierung leiden.
Oder:
Das sind weitgefächerte Fragen! Zum einen ist es so, dass wir in einem angeblich „christlichen“ Staat leben, mit Vereinbarungen und Verflechtungen der christlichen Kirchen mit dem deutschen Staat. Da gibt es sozusagen Religionen erster und zweiter Ordnung.
Und kritische Hinweise auf "problematische Verflechtungen":
Richtet sich der Antisemitismus gegen die Religion allgemein oder gegen Jüdinnen und Juden als Individuen?
Oder gegen den Staat Israel, mit dem Jüdinnen und Juden manchmal fälschlicherweise gleichgesetzt werden. Daraus entstehen weitere Fragen; z.B.:
Vor einigen Jahren war eine Veranstaltung in der Reutlinger VHS über die Nakba 1948 in Israel. Das war eine sehr eindrucksvolle Veranstaltung. Ein Freund von mir hat 4 Jahre in Israel als Wissenschaftler und Fotograf gearbeitet, in den frühen 2000er Jahren. Er hat damals Fotos der Mauer in Israel gemacht, aufgenommen auf der palästinensischen Seite. Er hatte eine Zusage für eine Ausstellung der Fotos in Stuttgart. Dies wurde aber dann von "jüdischer Seite" verhindert und vom Veranstalter abgesagt (leider wurde hier nicht gesagt von wem oder welcher Organisation).
Leider gibt es immer wieder Beispiele wie jüdische oder dem Staat Israel nahestehende Organisationen in Deutschland versuchen, Einfluss auf Veranstaltungen zu nehmen, die sich kritisch mit der Politik oder Geschichte Israels auseinandersetzen – dies geht sogar so weit, dass massiver Druck auf Veranstalter ausgeübt wird. Auch dies sollte medial kommuniziert werden. Letztlich tut niemand Israel – und schon gar nicht jüdischen Menschen in Deutschland - einen Gefallen, wenn man alles was Israel und dessen (politisches) Handeln anbelangt, kritiklos akzeptiert.

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