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Hat die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands und der Holocaust für Sie heute noch Bedeutung? Ist eine Auseinandersetzung damit heute noch zeitgemäß?

Fast einheitlich wurde diese Frage bejaht, wenn dabei auch recht unterschiedliche Aspekte eine Rolle spielten und auch die Form einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit unterschiedlich gesehen wird.

  • Auf jeden Fall. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoa muss stattfinden – ich meine auch, dass das in vielen Fällen gut gelingt.

  • Ich finde eine gute Erinnerungsarbeit sehr wichtig. Damit die ganze Gesellschaft lernen kann. Auch ein schweres Erbe ist ein Erbe, aus dem wir alle etwas machen können. Es sollte nur nicht als moralischer Appell enden, sondern als Chance für mehr Menschlichkeit deutlich werden.

  • Die Frage wie konnte so etwas passieren: Ausgrenzung, Diskriminierung, Vertreibungen, Vernichtung von ehemaligen Nachbarn (inkl. Intellektueller Eliten) muss unter verschiedensten Aspekten immer wieder aufs Neue gestellt werden. Dies schließt auch das Verschweigen ein.

  • Rechtes- und Antisemitisches Gedankengut ist wie Unkraut. Egal was man macht, es wird immer wieder an einer anderen Stelle hervorkommen. Daher muss man wachsam bleiben, zur Stelle sein und es versuchen zu bekämpfen.

  • Die aktuellen und auch fremdenfeindlichen antidemokratischen Entwicklungen in Deutschland und Europa zeigen die Notwendigkeit.

  • Die „Gnade der späten Geburt“ darf nicht dazu führen, den Holocaust als ein Kapitel abzutun, das lange zurück liegt und nichts mehr mit uns zu tun hat. Wir müssen uns dem auch in der Gegenwart stellen. Solange es noch persönlich möglich ist, sollten wir uns auch in der eigenen Familie damit auseinandersetzen und familiäre Täterschaften oder Haltungen zum Nationalsozialismus hinterfragen und aufarbeiten.

  • Wir, die nachfolgenden Generationen, tragen keine Schuld am Holocaust, aber eine große Verantwortung, dass er sich / das nicht wiederholt – auch nicht in Ansätzen!
    Eine der jungen Teilnehmerinnen schrieb: … auch wenn meine Generation oder die meiner Eltern keinen Anteil am Holocaust hatte, ist es wichtig weiterhin die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands aufzuarbeiten. Bis heute ist noch so Vieles nicht aufgeklärt. Selbst wenn solche Prozesse wie der der KZ-Sekretärin vor dem Landgericht Itzehoe keine Wiedergutmachung bringen können, sind sie doch wichtig, da sie zeigen, dass Deutschland sich seiner Vergangenheit bewusst ist und zumindest versucht ein Stückweit „Gerechtigkeit“ wiederherzustellen.

  • Eine Agenda gegen politische und soziale Dummheit ist zeitlos.

  • Dadurch wird uns immer wieder die Wichtigkeit der Demokratie und der Achtung elementarer Menschenrechte vor Augen geführt, und dass man nicht nachlassen darf, dafür einzustehen und daran zu arbeiten.
     

Einige Teilenehmer*innen wiesen auch auf die Wichtigkeit der Gedenkstätten hin:

  • JA, ich war (vor Corona) im KZ Dachau. Der Besuch hat mich stark aufgewühlt und wirkt auch heute noch nach. Vor Augen hatte ich wieder diese unvorstellbare unmenschliche Maschinerie und ich musste mir immer wieder klarwerden: Hier haben Menschen unendliches Leid ertragen müssen und sind gestorben, gestorben NUR weil sie Juden waren – einfach unfassbar. Die Auseinandersetzung ist und bleibt unabhängig vom Lauf der Zeit notwendig. ALLE sollen wissen und erfahren, was in den Jahren des Nationalsozialismus Unmenschliches in Deutschland geschehen ist.

  • Die Gräueltaten jener Epoche bleiben ohne gleichen, auch wenn man heute das Gefühl haben kann, dass sie für manchen Diktator als Vorlage dienen, unliebsamen Minderheiten systematisch zu diskriminieren und „aufzuräumen“.Die Offenlegung der geschichtlichen Fakten hat leider nicht immer zur Verbesserung der Menschenrechtslage geführt.

  • Ich selbst habe mich schon in jungen Jahren (Schulzeit) viel damit befasst, habe viel gelesen und entsprechende Filme gesehen. Aber als ich vor einigen Jahren Auschwitz besucht habe, stand ich vor einem Berg Schuhe – Frauen-, Männer-, Kinderschuhe. Ich habe nur noch geheult. Es gibt keine Möglichkeit, das zu vergessen oder zu verdrängen. Es gibt nur die Möglichkeit, so etwas nicht mehr zuzulassen.

  • Ich fahre seit 20 Jahren mit verschiedenen Gruppen nach Auschwitz, Dachau oder zu anderen Gedenkstätten. Zu Anfang dieser Zeit hatten wir einmal eine Diskussion, ob das in Deutschland wieder passieren könnte. Damals dachten viele: Nein. Inzwischen sitzen die Rechten im Bundestag und beginnen zu zündeln. Nehmen wir mal die Drucksache 19/1444 bei der es um Menschen mit Handicap geht. (die Drucksache ist innerhalb der Begleitmaterialien zur Ausstellung nachzulesen)
    Ganz aktuell habe ich eine Umfrage unter FSJler*innen bearbeitet. Die sprechen sich klar dafür aus, dass Fahrten zu Gedenkstätten für Schüler*innen obligatorisch sein sollten.

  • Wir benötigen (auch) die Existenz, die Pflege und den Fortbestand - und vor allem auch den Besuch - der Gedenkstätten, auch wenn das Lernen auf der Grundlage einer „Betroffenheitskultur“ zunehmend umstritten ist.
    Jedoch – sehr wichtig! - nicht als einzige Möglichkeit – vielmehr brauchen wir weitere (auch neue) Bausteine, die der jüngeren und kommenden Generationen das Erinnern und Lernen ermöglichen und vor allem auch auf der intellektuellen und emotionalen Ebene nahe zu bringen.

     

Mehrfach wurde in den Beiträgen betont, wie wichtig diese Auseinandersetzung auch für die jüngere Generation ist und dass zu den bisherigen auch neue Formen gefunden werden müssen, um zukunftsgerichtetes Lernen in diesem Zusammenhang zu ermöglichen.

  • Sie ist mehr als zeitgemäß, sie ist hochaktuell und unglaublich wichtig. Aufklärung und das Wissen um die Geschichte, ist Voraussetzung dafür, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen können und die „Jüngeren“ auch zukünftig motiviert sind, um aktiv gegen Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus (egal gegen welche Ethnie, Hautfarbe oder „Anderssein“) vorzugehen.

  • Eine Lehrerin merkte an: Junge Menschen stellen viele Fragen und wollen informiert sein. Es besteht auch immer noch großes Interesse an jüdischen Zeitzeugen in den Schulen – umso mehr ist es zu bedauern, dass diese Möglichkeit sehr bald zu Ende sein wird. Deshalb benötigen wir dringen adäquate neue Formen der Erinnerungskultur und Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit.

  • In der heutigen Auseinandersetzung muss die aktuelle Fragestellung im Vordergrund stehen – was können wir für heute daraus lernen?

  • Dazu finden viele Diskussionen im Kontext von aktueller Erinnerungskultur statt. Hier wünsche ich mir eine Erweiterung des Blickwinkels. Ich verfolge mit Interesse die Diskussionen über die Frage der Singularität der Shoa.

  • Aktuell bin ich in meiner Funktion als Gemeinderätin in die Auseinandersetzung um die Frage involviert, ob Tübingen ein Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus haben sollte.

  • Eine jüngere Teilnehmerin merkte an: Klar. Das ist ja alles nicht „lang“ her. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass ich in einer Demokratie leben darf. Frei, „reich“ und gesund. Nichts ist selbstverständlich.
    Ein Teilnehmer gab zu bedenken: Ja, weil die Beschäftigung mit der Schuld unserer Väter heilsam sein kann.
     

4 Teilnehmer vertraten die Meinung:
Der Nationalismus und der Faschismus waren in Deutschland nie tot. Viele alte Kameraden fanden in der FDP und in der CDU/CSU, in der Administration und vor allem in den Geheimdiensten Unterschlupf. Die Gesinnung lebt generationsübergreifend weiter; die Abgründe klaffen nach wie vor. Wir sollten uns der Gefahren bewusst sein, nur sollten wir dies nicht einseitig auf Juden beziehen. In Deutschland wurden nach dem Krieg Kommunisten und Flüchtlinge aller Art gehasst, und neuerdings werden vom Volk gewählte Parlamentarier systematisch geächtet (die „natürlich dazu das ihre beigetragen haben“, aber das hat man von den Juden auch gesagt).
Und:
Die Beschäftigung mit der Geschichte ist immer wichtig. Nur wenn man weiß, wo man her kommt kann man die heutige Situation beurteilen. Ich selbst habe mich intensiv mit der Geschichte, nicht nur Deutschlands, beschäftigt. Der Besuch der Gedenkstätten in Israel und die Literatur jüdischer AutorInnen haben mich sehr beeinflusst. Dabei geht es auch generell um die Auseinandersetzung mit autoritären und totalitären Tendenzen, die häufig auch von religiösen Gruppen unterstützt werden.
Ein weiterer Gedanke in eine ähnliche Richtung:
Diese Vergangenheit steckt viel tiefer und giftiger in den Deutschen als sie ahnen! Oft ist zu hören, dass die Versklavung der Schwarzen in den USA bis heute nachwirkt; sie liegt gute 150 Jahre zurück. Und der Nazismus mit seien Verbrechen soll nicht nachwirken, liegt er doch nur halb so lang zurück. Viel Wunschdenken und Augenwischerei ist hier bei den Deutschen im Spiel. Denn niemand weiß, was wann vergangen ist.

 

Ein weiterer Aspekt wurde thematisiert:

Ich möchte der deutschen Nazi-Vergangenheit nicht mehr so viel Aufmerksamkeit schenken, wie ich es in den vergangenen Jahren gemacht habe. Nazi-Deutschland war nach wie vor eines der dunkelsten Kapitel in der Menschheitsgeschichte und Ähnliches darf sich nie wiederholen. Und das liegt in unserer Verantwortung! Dennoch möchte ich meinen Blick nach vorne richten und an einer Gesellschaft arbeiten, in der es Fremdenfeindlichkeit nicht mehr gibt und wir friedvoll zusammenleben. Deutschland ist ein multikulturelles Land mit vielen bunten Facetten, darauf möchte ich in Zukunft stolz sein können.
Ich denke aber auch, dass es als aufmerksame*r Bürger*in in Deutschland kaum möglich ist, sich nicht mit der Thematik auseinander zu setzten, da man regelmäßig damit konfrontiert wird.

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